Tides - Kunstmuseum Solothurn, 2023

Auricular whorl (2023) ceramics, around 30 x 40 x 70 cm, partially glazed. Installation with jurassic marl

Tides, kuratiert von Meret Kaufmann, Kunstmuseum Solothurn, 17. September - 31. Dezember 2023. 

 

Stöcke im Boden der Caldera auf Nisyros markieren den Bereich, den man gefahrlos betreten kann. Ganz so, als ob die natürliche Welt etwas sei, dass man rastern und vermessen müsste, um es erfahren zu können. Der schwefelhaltige Schutt des Vulkans ist nicht zu erkennen, wird aber durch einen fluoreszierend-gelben Krug im Vordergrund des Bildes angedeutet. Spielerisch markiert er die Präsenz des vulkanischen Materials an diesem Ort.

Dimitra Charamandas verwendet Farbe wie ein giftiges Tier. Mit gelben Spritzern und terracottaroten Spuren lenkt sie unsere Aufmerksamkeit auf die Doppelzüngigkeit der Natur, deren hellste und verführerischste Schauspiele oft ihre fruchtbarsten sein können, aber eben auch ihre tödlichsten. Küstenwanderungen stellen für sie eine Art körperliche Recherche im Freien dar. Sie nutzt die vertrauten Merkmale der von ihr beobachteten Umgebung, um eine innere Gefühlslandschaft zu kartografieren. Tastsinn und Berührungen erscheinen hier als erste Spuren einer Politik der Fürsorge.

In dieser Landschaft wird die gewissenhafte Sorgfalt, die erforderlich ist, um etwas von der Entstehung bis zur Verwirklichung grosszuziehen, zu mehr als nur einer undankbaren weiblichen Tugend. Sie wird zu einer Strategie des Widerstandes gegen eine zunehmend transaktional geprägte Welt. In dieser Landschaft werden unsere Körper zur Handlung befähigt, Zeit wird zu einer unendlichen Ressource, und jede noch so kleine Aufgabe verdient unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.

Wir erleben Landschaft durch unsere Körper, und wir sprechen von ihr, als ob wir über einen Körper sprächen: Der Fuss des Berges, die Mündung des Flusses, der Bauch der Erde. Das Zentrum eines Sturms ist sein Auge, die Äste eines Baums sind seine Gliedmassen. Wir übertragen unser Verständnis von Körperfunktionen auf die Landschaft um uns herum. Was in ihr geschieht, wird mit Intentionalität aufgeladen, gleich den Bedürfnissen und Wünschen unserer Körper.

Aber die Natur zeichnet sich nicht nur durch Millionen Jahre schrittweiser Evolution aus, sondern auch durch das plötzliche Chaos der Waldbrände, die in diesem Sommer die Länder des Mittelmeerraumes verwüstet haben – dem heissesten, den der Planet je erlebt hat. Die Nachrichten sind voller Bilder von Strandbesucher*innen, die auf das Meer hinausblicken und schwimmen, im Rücken das verkohlte Ufer. In welcher Beziehung stehen ihre Körper, im Nicht-Ort des Meeres schwebend, zu der sie umgebenden Umwelt? Was haben unsere individuellen Körper mit dem Kollektiv zu tun – diesem metaphorischen politischen Körper, der mobilisiert und zum Handeln bewegt werden kann?


Dies ist eine Frage von Nähe und Massstab – zwei der Mittel, die Charamandas einsetzt, um vertraute Landschaften fremd erscheinen zu lassen und um umgekehrt ein Gefühl der Vertrautheit zwischen unseren Körpern und von uns nie betretenen Küstenpfaden zu erschaffen. Der Querschnitt eines Schwammes füllt den Rahmen und sieht aus wie verknotetes Gedärm; die Kante eines kleinen Steines wie der Grat eines Gebirges. Die Form einer im Sand liegenden Muschel – ein spiralförmiges Spaltenlabyrinth, das einem weichen, wirbellosen Körper Schutz bietet – ähnelt der des menschlichen Ohrs; Gehörknöchelchen, Trommelfell und Gehörgang verwandeln Schwingungen in wundersame Klänge.


Küstenlinien sind liminale Landschaften, transitorische Räume, die als Zugangspunkte fungieren, genau wie die membranartigen Oberflächen und körperöffnungsähnlichen Formen, die in Charamandas' Werk immer wieder auftauchen. Küstenlinien demarkieren, was uns bekannt ist; sie bilden eine visuelle Grenze zu dem, was greifbar ist, und fungieren als Bühnen, auf denen Träumer*innen ihre Augen ausruhen können, während sie über ein Anderswo nachdenken.

Der Mythos besagt, dass die phönizische Prinzessin Europa von der Küste aus über das Meer blickte, bevor sie gegen ihren Willen auf den Kontinent entführt wurde, der später nach ihr benannt werden sollte. Von Verzweiflung getrieben, riskieren auch heute Tausende ihr Leben, treten die unfreiwillige Reise nach Europa an und versuchen ihre Körper mit reiner Willenskraft irgendwie über das Meer zu bekommen. Als Endpunkt einer sechsmonatigen Reise durch Griechenland überquerte Charamandas zu Fuss die Insel Lesbos. Auf der Insel, auf der früher viele Asylsuchende im Geflüchtetenlager Moria untergebracht waren, gelangte sie an den äussersten Punkt der Ägäis, dorthin, wo diese ins Mittelmeer mündet. Inseln sind poröse Landschaften, aus denen Ereignisse, Ideen und Menschen leicht heraussickern können.

In Luce Irigarays Schriften über die amorphen Qualitäten des Wassers als Manifestationen des Weiblichen verwendet sie diese als Metapher, um traditionell ‹männliche›, auf Rationalität beruhende Philosophien durcheinanderzubringen. Sie schreibt: «Die See leuchtet mit Myriaden Augen. Und niemand wird ein Vorrecht eingeräumt. Selbst hier und jetzt macht sie jegliche Perspektive zunichte. Zahllos und stetig sich verändernd und ihre Tiefen verschmelzend. Und ihre Anziehungskraft ist ein eisiges Leichentuch für die Perspektive.» Eine ähnliche Affinität zum Weiblichen zieht sich auch durch Charamandas' Werk, aber nicht als Kontrapunkt zur Rationalität, sondern als ein Blickwinkel, der die generativen Kräfte von Fluidität und Liminalität betont.

The liminal space of the shoreline is where two worldviews overlap, the rational and the intuitive, the physical and the emotional. The veil between body and mind is lifted by something as simple as a cool sea-breeze, and, momentarily, we believe we are attuned to the sublime. A physical sensation becomes a feeling, which, wavelike, swells into something we might call an experience when we describe it in the future—an embodied kind of knowledge that rolls over that which is plotted and gridded.

Im liminalen Raum der Küste überschneiden sich zwei Weltanschauungen – die rationale und die intuitive, die physische und die emotionale. Der Schleier zwischen Körper und Geist wird von so etwas Einfachem wie einer kühlen Meeresbrise gelüftet, und für einen Moment glauben wir, mit dem Erhabenen in Berührung zu sein. Eine körperliche Empfindung wird zu einem Gefühl, das wellenförmig zu etwas anschwillt, das wir vielleicht in der Zukunft als Erfahrung bezeichnen können – eine verkörperte Art von Wissen, das über das hinausgeht, was vermessen und gerastert ist.

 

Eine Myriade Augen, Lara El Gibaly für die Publikation erschienen zu Tides, Pale Shapes Of Livers And Kidneys

 

Besonderer Dank für den Austausch, die Unterstützung und die Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen an Katrin Steffen, Meret Kaufmann und das technische Team des Kunstmuseum Solothurn um Til Frentzel, an Regula Charamandas, Luca Mengisen, Zoe Vaistij, Martina Meier, Eleni Riga, Lara El Gibaly, Stefan Lorenzutti, Anita Mucolli, Laurie Mlodzik, Basim Magdy, Joshua Jörin, Marcel Freymond und Elena Freymond Lazarova, Johanna Schaible, Dimitra Konstantinidis, Irene Trujillo, Andrea Perales Covarrubias, Chus Martínez, Claudia Müller, Sabina Medici

Besonderer Dank an den Swisslos-Fonds des Kantons Solothurn, Stiftung Baloise Bank AG, Däster-Schild Stiftung, Walter Borrer-Stiftung sowie an die Raffinerie, Zürich, Videocompany, Zofingen, Zumstein & Cie., Basel, Egger AG, Solothurn, Alba GmbH, Solothurn, und Kyriles, Solothurn

 

Dokumentation: David Aebi, Stefan Holenstein, Dimitra Charamandas

Left side: Ritual (Quiet agreement) (2023), 19 x 13 cm, acrylic and shellac on wood, right side: Inland body of water (Edge) (2023), acrylic on cotton, 210 cm x 170 cm      

Left side: Mouth (2023), acrylic on cotton, 120 cm x 140 cm, (From the ongoing series Calderas, 2022 –), right side: Moth (2023), 13 x 9 cm, acrylic and shellac on wood

Milieu (Fireflies) (2023), acrylic on cotton, 140 cm x 120 cm

Shifting alliances (2023), acrylic on cotton, 190 cm x 300 cm

Installation view of Tides, Kunstmuseum Solothurn. Left side: Peak, acrylic on cotton, 100 cm x 120 cm

Left side: Earth (2023), 19 x 13 cm, acrylic and shellac on wood, right side: Peak, acrylic on cotton, 100 cm x 120 cm  

Farther back fluffy hairs /Sway suspended like seaweed - Sand (2023), digitalized super8 film, looped, projection, foil, steel

Orebody (2023), digital film looped. This and following work: From the collection of moving image fragments for the short film Sun Burn (Greece, 8’, to be released Nov 2023), Cicada Collective (Dimitra Charamandas, Julie Olympia Cahannes, Irene Trujillo, Luca Mengisen)  

Kólpos (Gulf) (2023), digital film looped

Membranes, textile installation, voile, water ink, raw steel

Installation view Tides, Kunstmuseum Solothurn

Auricular whorls (2023) ceramics, various sizes, partially glazed. Installation with jurassic marl

Caldera, heat (2023), acrylic on cotton, 183 cm x 430 cm, Crest (2023) ceramic, around 30 x 40 x 65 cm, burned and glazed

Caldera, Heat (2023), acrylic on cotton, 183 cm x 430 cm

Opening of Tides, Kunstmuseum Solothurn, September 2023. Documentation: Andrei Oros

Bittersweet treats at the release of the publication Pale Shapes Of Livers And Kidneys at Kunstmuseum Solothurn in October 2023.

Fresh cheese fluff, marinated beet root with orange cest olive oil, caramelized onions and onion sprouts, isot piperi. Preperation of the food and serving in collaboration with Regula Charamandas-Schibler, Stelios und Pavlos Charamandas, Martina Meier and Julia Felchlin.

The publication Pale Shapes Of Livers And Kidneys accompanies the exhibition Tides. It holds a collection of text fragments and imagery around the processes leading up to the exhibition. With contributions by Lara El Gibaly and Eleni Riga. Developed in close exchange with curator Meret Kaufmann. Graphic design by Martina Meier, Bureau Mia, Zurich, published by Kunstmuseum Solothurn.

The base for a fennel apple salad with roasted hazelnuts; celery parsley root puree and parsley garlic olive oil.

Pumpkin cake with tahini sauce, plum-sea buckthorn coulis and palm kale.

Spelt-pumpkin seed flatbread, carrot tzatziki and carpaccio, pumpkin seed oil

Scrollen
Nächstes Projekt